Montag, 14. Januar 2008

Säbelrassel-Rolands Sozialkunde-Stunde

Sie wollen nicht sich vor Schmerzen krümmend im U-Bahn-Schacht liegen? Aber genau das wird Ihnen passieren. Bald schon. Vielleicht schlägt Ihr Kopf auf die Gehwegplatten eines einsamen dunklen Stadtparks statt auf den gefliesten Boden einer Bahnhofsvorhalle. Aber das macht die Sache für Sie nicht besser, nicht wahr? Und wer ist schuld? Erinnern Sie sich? Vor vierzig Jahren, als noch der Rohrstock regierte, gab es da so etwas? Nein. Zucht und Ordnung, die Grundlagen unserer Gesellschaft. Adenauer würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er die heutige Kuscheljustiz bei Jugendlichen miterleben müsste. Damit muss Schluss sein! Diese pöbelnden Halbstarken, deren Deutsch gerade zum Bestellen eines Döners reicht, regieren die Straße, dass sich ein anständiger Bürger kaum noch vor die Tür traut, und warum? Weil ihnen niemand die Grenzen zeigt, deshalb! Dieses ganze wischi-waschi grüne Sozi-Gewäsch von mildernden Umständen, schwerer Kindheit, das hat es gebracht: Mord und Totschlag. Damit muss jetzt endlich Schluss sein! Unsere christliche Wertegemeinschaft steht auf dem Spiel. Wenn wir jetzt nicht mit aller Härte gegen diese Subjekte vorgehen, ihnen eine Warnung vor den Bug schießen, wird das Deutschland, wie wir es kennen und lieben, untergehen. Deshalb, Bürger, die Mitte unserer Gesellschaft muss zusammenstehen wie ein Mann angesichts dieser Bedrohung. Harte Gefängnisstrafen für jugendliche Kriminelle, schnelle Abschiebung krimineller Ausländer muss das Gebot der Stunde sein. Am 27. Januar wird die Entscheidung fallen: Sicherheit oder Anarchie.


Nazipolemik in einem studentischen Blog? Weit gefehlt, dieser zugegeben fiktive Appell stellt die abstruse Ideenwelt einer wahlkämpfenden Volkspartei dar. Klingt doch alles ganz logisch? Ach, komm, das Brett vor deinem Kopf lässt sich doch wunderbar als Brennholz für einen romantischen Kaminabend verwenden. Natürlich hören sich die ganzen Forderungen nach härteren Strafen, schnellerer Abschiebung erstmal ganz wunderbar an – ganz wunderbar einfach nämlich. Was muss man dafür ändern? Ein paar Gesetze, von denen man im Alltag wohl eher nichts mitbekommt, wenn man nicht gerade einen Career-Workshop im Rotlichtmilieu absolviert hat.


Wo liegt hier der Hase im Pfeffer? Die Rückfallquote für jugendliche Straftäter, die im Gefängnis gesessen haben, liegt laut dem Goethe-Institut bei 78 Prozent. Hach, wenn mal das Wahlergebnis so wär... Anders als mit solcher Tagträumerei lassen sich die ja nun schon vielbesungenen Äußerungen des Herrn Koch kaum erklären. Es ist ja eine wunderbare Sache, für die eigene Partei ein möglichst hohes Wahlergebnis erzielen zu wollen, aber muss das denn ausgerechnet zum Abwürgen einer notwendigen Diskussion und Ursachenbekämpfung des Kriminalitätsproblems führen? Als mehr als Symptomherumdokterei kann man solche Vorschläge ja wohl kaum bezeichnen. Wenn in der Medizin mit solchen Methoden gearbeitet würde, bekämen Krebspatienten heute Aspirin statt Chemotherapie, was sowohl kurz- als auch langfristig zu den gleichen Ergebnissen führt: Kurzfristig ist der Schmerz weg, langfristig ist der Patient tot.


Vielleicht sollte der geneigte Landespolitiker genau hier einmal hinschauen: Medizin und Naturwissenschaften suchen seit langer Zeit nach dem Ursachen von Problemen, um diese dann wirksam lösen zu können. Seit genauso langer Zeit zeigt sich die Politik meist über solch langweiliges, weil vernünftiges Vorgehen erhaben. Ja, wo liegen sie denn, die Ursachen? Hinter Gitterstäben wohl kaum. Warum wird denn der zwanzigjährige Realschüler, der eine Ausbildung zum Industriekaufmann macht, kaum straffällig, warum schlägt der Maschinenbaustudent nicht völlig betrunken aus Frust Leute zusammen?

Weil sie eine Perspektive haben. Weil sie eine Zukunft vor sich sehen, für die es sich lohnt, sich aus dem Knast herauszuhalten.

Weil sie auch ohne Schlagring die Aussicht auf Anerkennung haben.

Weil man sie gefragt hat, was sie denn mal werden wollen. Und dann, wie man ihnen dabei helfen kann.

Weil man ihnen eine Geschichte zum Einschlafen vorgelesen hat.

Kurz: Weil man sich um sie gekümmert hat.


So einfach und doch so unendlich schwierig kann die Welt sein. Auch Roland Koch kennt diese Probleme, die Voraussetzungen zu schaffen, sie zu lösen, wäre seine Aufgabe. Aber wozu sich mit solch langwierigen Diagnosen und Problemlösungsstrategien herumschlagen, wenn die Leute auch bei viel einfacheren, wenn auch falschen Parolen rufen: Jawoll! Raus mit denen einen aus Deutschland! Rein mit den anderen in den Knast!


Im Straßenverkehr mag Kurzsichtigkeit tödlich enden können, in der Politik wird sie belohnt. Deshalb hat der grundsympathische und weltoffene hessische Landesvater auch gar keinen Grund sich weiter das Gehirn zu zermartern. Eine echte Lösung erforderte nämlich eine veränderte Sozial- und Integrationspolitik oder überhaupt erst einmal etwas, das diesen Namen mit Fug und Recht tragen darf. Damit verbunden sein muss dann natürlich eine wirklich erneuerte Bildungspolitik mit Ganztagsschulen, die dann aber auch nicht nur den ganzen Tag die Schüler aufbewahren, sondern entsprechende Kreativ-, Sport- und sonstige Angebote unterbreiten, Hausaufgabenhilfen, Lernzirkel u.ä. anbieten. Eine Theatergruppe an der Schule ist eine gute Sache, aber wenn andere lieber zeichnen oder Fußball spielen, reicht das eben nicht. So könnte auf jeden Schüler mit seinen Interessen eingegangen, er individuell gefördert werden und so merken, dass man in der Welt auch ohne Schlagring und Handyklingeltöne von Jamba Anerkennung bekommt. Damit die Kinder aber überhaupt erstmal soweit kommen, ist es absolut notwendig, gerade in den so gern als „bildungsfern“ titulierten Familien die Eltern anzusprechen, ihnen zu zeigen, wo Hilfe wartet, wenn sie einmal überfordert sind. Kindergärten sind gerade in den alten Bundesländern noch viel zu selten gesät. Diese sind natürlich wichtig, damit arbeitende Eltern ihre Kinder in guten Händen wissen, während sie nicht da sind, aber eben nicht nur. Besonders Kinder mit schwierigem Elternhaus, das häufig auch von Arbeitslosigkeit betroffen ist, wo dann gern gesagt wird - „Die können ihre Kinder doch selber erziehen, haben doch eh den ganzen Tag Zeit!“ - brauchen die Förderung durch Kindertagesstätten, wo sie feste Regeln lernen, mit Kindern aus allen Bevölkerungsschichten in Kontakt kommen und bereits spielerisch erste Zahlen und Buchstaben, sogar Fremdsprachen lernen können, was sie dann ganz stolz ihren Eltern erzählen. Findet eine solche Förderung nicht statt, kann es für einen kleinen Teil der Kinder vielleicht schon zu spät sein. Abgeschrieben, bevor man bis 10 zählen kann. Solche gesellschaftlichen Armutszeugnisse gibt es genug in Deutschland. Genau das ist bei der Pisa-Studie ja gemeint, wenn die Abhängigkeit des Schulabschlusses vom sozialen Status der Familie bemängelt wird. Wenn Papa Doktor der Chemie ist, braucht sich Sohn oder Tochter kaum Gedanken um die Zukunft machen. Ist er Hartz IV-Empfänger, lohnt sich ein Nachdenken darüber für das Kind auch kaum, seine Zukunft liegt meist maximal einen Plattenbau weiter.


Solch umfassende Reformen kosten aber viel guten Willen und vor allem Geld.


Die ganze Debatte kennst du schon? Das könnte daran liegen, dass genau diese Vorschläge in den letzten Monaten schon häufig kamen, sogar von Teilen der Union – auch wenn der andere, gerne süddeutsche Teil derselben dabei mit den Fingerknöcheln knackte. Nun sind wir es gewöhnt, Vorschläge, die sinnvoll sind, nicht immer, wie heißt es so schön trendy, zeitnah umgesetzt zu sehen. Allerdings ist es schon traurig, dass viele solcher teilweise richtig innovativer Ideen genauso wieder in der Versenkung verschwunden sind. So als ob die Politiker sich erschrocken hätten, zu was für verwegenen Gedanken sie fähig sind. Andere Sachen wurden weichgespült und dann als bahnbrechender Erfolg verkauft. Kindergartenplätze für 30 Prozent der westdeutschen Kinder. Halleluja. Da wurde an die Kinder Arbeitsloser bestimmt zuerst gedacht.


Du fragst dich immer noch, warum das denn so schleppend, wenn überhaupt, geht?


Für dich wiederhole ich mich doch gern: Das kostet Geld. Und Mut. Noch Fragen?


Das wirklich Verwerfliche an Herrn Kochs Stammtischgepoltere ist doch das: Nichts davon hat er aus der Notfallmottenkiste für spontane Reformvorschläge (zu finden unterm Rednerpult im Bundestag und -rat) hervorgeholt. Sondern er hat die Vernunft Vernunft sein lassen und sich lieber der Demagogie hingegeben. Offensichtlich hält er seine Landeskinder für nicht clever genug, solche Zusammenhänge zu verstehen. Schade, aus dieser Situation, wenn sie schon einmal da ist, hätte man mehr machen können, als Parolen von Landtagswahl-Plakaten der DVU von vor einigen Jahren abzuschreiben.